Märchen aus dem Reich der Schweigenden – Die Mauer aus Angst
Es war einmal ein großes Reich mitten in Europa, das nannte sich stolz „Demokratia“. Die Menschen dort durften wählen, reden, schreiben – zumindest glaubten sie das. Denn über die Jahre war etwas Seltsames geschehen: Eine unsichtbare Macht hatte sich zwischen die Bürger und ihre Herrscher geschoben – man nannte sie die Brandmauer.
Die Erbauer der Mauer
Die Mauer wurde einst von den großen Häusern errichtet: dem Haus der Konservativen, dem Haus der Fortschrittlichen, dem Haus der Grünen Weisen und den Liberalen Jongleuren. Sie hatten Angst – nicht etwa vor Drachen oder dunklen Magiern, sondern vor einem aufmüpfigen Volksteil, der sich im fernen Osten des Reiches bemerkbar machte. Diese Leute fragten zu viel, schimpften zu laut, glaubten nicht mehr an die Geschichten der Herrschenden. Und so rief man: „Wir müssen eine Mauer bauen! Eine Mauer gegen das Böse!“
Und die Mauer entstand. Ziegel um Ziegel wurde gestapelt: aus Moral, Angst, Schuld, Empörung – und einer guten Portion Heuchelei.
Die Stimme aus dem Schatten
Doch hinter der Mauer regte sich etwas. Dort lebte ein Volksteil, der von den Edlen nur noch als „Dunkelvolk“ bezeichnet wurde. Man sprach ihnen das Herz ab, die Vernunft, ja sogar die Menschenwürde. Doch sie lebten noch – und wuchsen. Je höher die Mauer wurde, desto mehr fragten sich die Menschen dahinter: „Wenn wir so gefährlich sind – warum hört uns dann keiner zu?“ Und so begannen sie, lauter zu sprechen. Manche schrien. Andere flüsterten. Wieder andere wählten – jene Partei, deren Namen man im Schloss nur mit zusammengekniffenen Lippen aussprach.
Das große Spiel der Mauerschützer
Die Mauerschützer hatten ihre Rituale. Wenn ein Gedanke aus dem Osten kam, stampften sie mit dem Fuß, hielten ihre Schilder hoch und riefen: „Pfui! Pfui! Das ist gefährlich!“ Wenn ein Vorschlag aus der falschen Ecke kam – selbst wenn er gut war –, war er automatisch „rechtspopulistisch“, „toxisch“ oder „brandgefährlich“. Im Schloss lernten die Jünglinge das neue Staatscredo: „Widerspruch ist Verdacht, und Verdacht ist Schuld.“
So wurde die Mauer höher und höher, während der Boden unter ihren Füßen zu bröckeln begann.
Die Risse in der Mauer
Eines Tages begab es sich, dass ein alter Müller im Westen sagte: „Ich teile ihre Meinung nicht, aber ich verstehe, warum sie sie haben.“ Und ein junger Schmied im Norden rief: „Wenn wir nie zuhören, werden wir nie heilen.“ Da entstanden Risse in der Mauer. Kleine, kaum sichtbare Spalten. Doch sie weiteten sich, denn Wahrheit ist geduldig – und Mauern sind nicht für die Ewigkeit gebaut.
Der Tag der Entscheidung
Eines Morgens kam ein Sturm. Kein Wettersturm – ein Sturm aus Fragen, Forderungen und Frust. Die Bürger pochten an die Mauer, baten um Debatte, um Sichtbarkeit, um Gerechtigkeit. Doch die Schlossbewohner blieben stur. „Wir dürfen nicht reden mit den Falschen!“ riefen sie. Und dann – riss die Mauer. Laut und gewaltig.
Staub lag in der Luft. Und auf beiden Seiten standen Menschen. Keine Monster. Keine Dämonen. Nur Bürger eines Reiches, das sich Demokratie nannte – und beinahe vergessen hatte, was das eigentlich bedeutet.
Moral von der Geschicht’:
Wer Mauern gegen Worte baut, wird irgendwann von der Wahrheit überrollt. Denn Demokratie braucht keine Schutzwälle – sie braucht offene Türen.
